Der Stellenwert und die Wahrnehmung des öffentlichen Raums sind in stetem Wandel. Nachdem sich die Stadtplanung ab den 1950er-Jahren vornehmlich am Auto orientierte, versuchte man in den letzten zwei Dekaden den städtischen Raum wieder für die Menschen zurückzuerobern: als Ort des Austauschs und der Interaktion, der er von jeher war. Temporäre Mikroarchitekturen, die ebenfalls eine lange Tradition haben, begleiten und begünstigen diese Entwicklung.

«Modulare Elemente im öffentlichen Raum».

Illustration: @Anita Allemann

Temporäre «Mikroarchitekturen» haben eine lange Tradition: Schon die Römer kannten temporäre Stadien, in denen Wagenrennen stattfanden.

Als «Wohnung des Kollektivs» bezeichnete der Philosoph Walter Benjamin einst den öffentlichen Raum. Von jeher war er Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens, ein Ort des Austauschs und der Interaktion. In der griechischen Agora und später im römischen Forum kamen Menschen zusammen, um Handel zu treiben, zu debattieren und zu feiern. Im Mittelalter entflochten sich die Versammlungsorte. Die Menschen trafen sich, je nach politischer, religiöser oder wirtschaftlicher Aktivität an unterschiedlichen Orten: auf dem Marktplatz, auf dem auch ein Brunnen stand; auf dem Domplatz, der Raum für Prozessionen bot; oder auf dem politischen Platz – in Rom war das der Campidoglio. Mit der Französischen Revolution fiel das adelige Privileg auf den bis anhin privaten Landschaftsraum. Viele Parks standen künftig auch gemeinen Bürgerinnen und Bürgern offen.

Wohn- und Arbeitsraum trennen sich
Die Entwicklung des Verkehrs spielte eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des öffentlichen Raums. Von den antiken Strassen und Wegen über die mittelalterlichen Handelsrouten bis hin zu den Eisenbahnen und Strassenbahnen im 19. Jahrhundert beeinflusste die sich laufend wandelnde Mobilität die Gestaltung der städtischen Räume. In immer moderneren Vehikeln schlugen die Menschen andere und neue Wege ein.

In Paris fand etwa mit Haussmanns städtischer Umgestaltung ab 1853 ein erster Paradigmenwechsel statt: Das Zentrum war nun nicht mehr Versammlungsort, sondern Ausgangspunkt für Paraden oder Aufmärsche. Im Zug der Industrialisierung trennten sich Wohn- und Arbeitsraum voneinander. Die Menschen bewegten sich von da an zwischen diesen beiden Räumen, vermehrt auch in Trams und städtischen Bahnen, nicht mehr zu Fuss. Dafür brauchte es auch Infrastrukturen wie Sitzbänke, Strassenlaternen, Trinkhallen (später Kioske) und Toiletten.

Eine eigentliche Zäsur ereignet sich ab den 1950er-Jahren, als das Auto zum Massstab für die Stadtplanung wurde. Fussgänger und Velofahrerinnen wurden buchstäblich an den Rand oder in den Untergrund gedrängt, Begegnungsorte gab es nur noch wenige. Der öffentliche Raum wurde zu einem Ort der Durchreise statt des Verweilens.Zwar erlebte der öffentliche Verkehr ab den 1980er-Jahren ein Comeback, nachdem der Club of Rome bereits 1968 und später das Waldsterben die Umweltproblematik in den Fokus gerückt hatten. Der massive Ausbau des öffentlichen Verkehrs beschleunigte allerdings die räumliche Zersiedelung, da die luft- und lärmbelasteten Städte als unattraktiv galten. Erst kurz vor der Jahrtausendwende wurden sie als Lebensräume wiederentdeckt. Urbanistinnen und Stadtplaner erkannten, dass Menschen sich gern in urbanen öffentlichen Räumen aufhalten, wenn sie dort finden, was sie brauchen: Natur und Ruhe, aber auch Bewegung und Begegnung, kurz: eine hohe Aufenthaltsqualität. Um diesen Bedürfnissen gerecht zu werden, wurde und wird die Bevölkerung vermehrt partizipativ in die Stadtplanung miteinbezogen. Quartiere werden verkehrsberuhigt, Plätze von Parkflächen befreit, Fussgänger und Velofahrerinnen erhalten wieder mehr Platz auf der Strasse. Dennoch lässt sich das Rad nicht so einfach zurückdrehen. Der fatale Entscheid, den Städtebau auf den Autoverkehr auszurichten, macht es in den meisten europäischen Städten schwierig, den öffentlichen Raum für den Fuss- und Veloverkehr und für Begegnungen zurückzugewinnen. Noch immer ist in den meisten Schweizer Städten 60 Prozent der Verkehrsfläche für das Auto reserviert.

Die Stadt als Wohnzimmer
Dabei besteht gerade in der warmen Jahreszeit auch in unseren Breitengraden das Bedürfnis nach zusätzlichen Freiräumen im eigenen Quartier. Auf den Plätzen und in den Parks gibt es jedoch meist zu wenig Raum für alle gewünschten Nutzungen. Deshalb bietet es sich an, Strassen kurzzeitig umzunutzen oder Kreuzungen mit temporären Bauten zu bespielen. In der Schweiz zeigen das zwei aktuelle Projekte beispielhaft. Während der Zürcher Sommeraktion «Brings uf d’Strass!» bleiben einige Strassen in einem ausgewählten Quartier für den Durchgangsverkehr (nicht aber für Rettungsfahrzeuge und Zubringer) während sechs Wochen gesperrt: Im verkehrsfreien Raum spielen und gärtnern, spazieren und flanieren, plauschen und grillen kleine und grosse Menschen in Zürich. Auch in der Bundesstadt der Schweiz werten die «Berner Oasen» den öffentlichen Raum aufwerten.

Stadtmobiliar schafft lokale Identität
Eine Wohnung – um bei Walter Benjamins Bild zu bleiben – muss natürlich auch möbliert sein, damit sich ihre Bewohner darin wohlfühlen. Das sogenannte Stadtmobiliar soll aber nicht nur funktional sein, sondern auch zu einer guten Aufenthaltsqualität beitragen. Formschöne, hochwertige Stadtmöbel erlauben es der Bevölkerung, sich den öffentlichen Raum anzueignen und verraten auch etwas über die Entwicklung einer Stadt und den Stellenwert des öffentlichen Raums. Zudem trägt dieses «Stadtmobiliar» in Zeiten, da Städte mit identischen Ladenpassagen zunehmend verwechselbar aussehen, zur lokalen Identitätsbildung bei.

Für temporäre Umnutzungen bieten sich temporäre «Mikroarchitekturen» an. Auch sie haben eine lange Tradition in Europa. Schon die Römer kannten temporäre Stadien, in denen Wagenrennen und andere öffentliche Veranstaltungen stattfanden. Sie wurden aus Holz und anderen leichten Materialien oft in Form eines langen Rechtecks mit erhöhten Tribünen erstellt. Nach den Veranstaltungen wurden sie abgebaut oder für andere Zwecke wiederverwendet. Im Barock und in der Renaissance wurden prächtige Festarchitekturen für öffentliche und königliche Feierlichkeiten erschaffen. Mit der Industrialisierung und dem Wachstum der Städte im 19. Jahrhundert kamen temporäre Pavillons und Hallen auf, in denen Industrie- und Gewerbeausstellungen abgehalten und die neuesten technologischen und industriellen Entwicklungen präsentiert wurden. Oft waren diese Bauten architektonische Meisterwerke, etwa der Kristallpalast für die Great Exhibition von 1851 in London, und zogen Besucher aus der ganzen Welt an.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts liessen Stadtverantwortliche – nicht zuletzt wegen der zunehmenden Regulierung des Verkehrs – vermehrt dauerhafte Bauten und Infrastrukturen erstellen. Erst ab den 2000er-Jahren erlebten temporäre Bauten eine Renaissance: Mobile Bühnen, Sommerpavillons, etwa der berühmte Serpentine Gallery Pavilion in London, Kunstaktionen oder Urban Gardening beleben den öffentlichen Raum, regen zu Diskussionen an, laden Bewohnerinnen und Gäste einer Stadt ein und fördern das soziale Miteinander.

Dass modulare Mikroarchitekturen sich besonders für temporäre Nutzungen eignen, ist kaum erstaunlich. Die flexiblen, anpassungsfähigen Strukturen lassen sich schnell sowie leicht auf- und abbauen. Bei Bedarf sind manche auch erweiterbar und können sich an die Bedürfnisse des jeweiligen Standorts angepasst werden. Die Module des Pavillons «Salvage Swings» beispielsweise lassen sich im Kreis oder als Linie anordnen. Meist können die Module gut transportiert und somit an verschiedenen Standorten aufgebaut werden. Mögen diese Mikroarchitekturen im Vergleich zu anderen Stadtbauten klein sein: in ihrer Funktion, Menschen in den öffentlichen Raum einzuladen, sind sie sozial höchst bedeutsam.

Quellen

Jonas Bubenhofer, «Geschichte der Siedlungs- und Verkehrsentwicklung in der Schweiz», https://mobilon.ch/?p=282 (aufgerufen Mai 2023)

Vittorio Magnano Lampugnani, «Bedeutsame Belanglosigkeiten», Berlin 2019

Philipp Sarasin, «Der öffentliche Raum ist immer politisch. Ein Gespräch mit Christoph Haerle», Geschichte der Gegenwart, https://geschichtedergegenwart.ch

«Stadt aufmöbeln. Was ist Stadtmobiliar?», Abteilung Social Design – Arts as Urban Innovation an der Universität für angewandte Kunst Wien (Hrsg.), https://stadtaufmoebeln.uni-ak.ac.at/was-ist-stadtmobiliar/ (aufgerufen Mai 2023)

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