Elementierung, Vorfertigung und Montagebau waren auch in der Schweiz wichtige Themen in der Architektur der 1960er-Jahre.

hopa_piuskirche_meggen_1_4804x3602_72rgb

Pfarreikirche St. Pius in Meggen, Luzern

Bildnachweis: Kuster Frey

Die rasante Verstädterung des Landes und eine anhaltende wirtschaftliche Prosperität schienen die industrielle Fabrikation im Bauen zum Gebot der Zeit zu erheben. In der Aufbruchsstimmung der Nachkriegszeit begeisterten diese Themen vor allem die junge Architektengeneration. Ihre Anschauungsbeispiele fand sie in den USA, dessen Architekturproduktion vor Ausdrucksvielfalt und Vitalität strotzte. Im Glaube an die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten der Zukunft verknüpfte sie architektonische Kriterien mit modularen Baumethoden – mit dem Ziel, sie auf die Bauaufgaben ihrer Zeit zu übertragen.

System in der «Fabrikhalle Gottes»

Auch der Architekt Franz Füeg war im Sinne der Moderne von den Vorzügen der seriellen Fertigung und des Montagebaus überzeugt. Doch erkannte er, dass in seiner Zeit, deren technologischer Fortschritt scheinbar keine Limits kannte, die Zweckhaftigkeit allein nicht genügte, um Bauten mit Bestand zu erschaffen. In einem Vortragstext aus dem Jahr 1958 lotete er die Grenzen der aktuellen Architektur aus und stellte fest: «Das Bauen geht in der Richtung der Entsinnlichung der Bautechnik. Aber Architektur kommt nur zur Erscheinung im sinnlich Wahrnehmbaren.»

Wie wichtig Füeg die Synthese aus ideellem Gehalt und rationalen Methoden war, demonstrierte er mit der 1966 fertiggestellten Pfarrkirche St. Pius in Meggen: Die schlichte Stahlskelettkonstruktion gehorcht genau wie die Ausstattung des rechteckigen Kirchenraums einem streng quadratischen Grundrissraster. Ob ihrer Nähe zum Industriebau im Volksmund «Fabrikhalle Gottes» genannt, lässt beim Betreten des stützenfreien Innenraums dessen würdevolle Atmosphäre den Kritiker verstummen. Die elementierte Fassade besteht rundherum aus dünnen Marmorplatten, durch die das Tageslicht goldgelb schimmert. Die Maserung des Steins zeichnet sich wie ein Faltenwurf an den vier Aussenwänden ab, gerahmt und gehalten von der gliedernden Kraft der repetitiven Stahlkonstruktion.

Hopa_Piuskirche_Meggen_4.1_2707x3602_72_rgb

Pfarreikirche St. Pius in Meggen, Luzern

Bildnachweis: Kuster Frey

Hopa_Piuskirche_Meggen_18_2707x3602_72_rgb

Meggen_Grundriss_3508x1721
Meggen_Schnitt_3508x1721

Grundriss und Schnitt, Pfarrkirche St. Pius in Meggen, Luzern

Bildnachweis: Laure Nashed

Das Bauen geht in der Richtung der Entsinnlichung der Bautechnik. Aber Architektur kommt nur zur Erscheinung im sinnlich Wahrnehmbaren.

Franz Füeg

Variel-Raumzelle aus den Fünfzigerjahren

Zur gleichen Zeit entwickelte Fritz Stucky erfolgreich pionierhafte Raumelementkonzepte. Der Zuger Architekt meldete Mitte der 1950er Jahre sein erstes Patent einer in Reihe addierbaren Raumzelle an. Schrittweise baute er es zum Variel-Bausystem aus und brachte es mit dem Unternehmen Elcon AG auf den internationalen Markt. Ähnlich wie Franz Füeg greift Stucky mit seiner ausgeklügelten Raumzelle aus Beton visionäre Aspekte seiner Zeit auf. Anstatt jedoch Bauteile zu elementieren, baute er Häuser wie Autos: Je nach Verwendungszweck als Wohn-, Schul- oder Bürobau wurden die Raummodule mit einem hohen Vorfertigungsgrad mit leicht unterschiedlichen Abmessungen in Länge und Höhe im Werk hergestellt. Der Wert des Variel-Systems lag nicht nur in seiner offenen Konzeption. Neben der Erweiterbarkeit in die Vertikale ergibt sich aus der teppichartigen Addierbarkeit in die Horizontale eine erstaunliche Freiheit im Entwurf. Durch die Kombination des einfachen Systems entstehen unwillkürlich Restflächen, die sich als Patioräume und Treppenbereiche nutzen lassen. Im Gegensatz zu einer strengen Systematik zeigt Variel damit eine ungeahnte Vitalität, die es erlaubt, zwischen Normierung und Einzelfall zu unterscheiden.

Für eine anspruchsvolle genauso wie für eine pragmatische Anwendung geeignet, wurde das Potenzial des Systems nicht bei jedem Bauwerk ausgeschöpft. Es erstaunt deshalb wenig, dass auch Variel-Häuser durch eine eindimensionale Verwendung nicht mehr als nüchterne Kargheit erreichen. Umso mehr lohnt sich der unvoreingenommen Blick auf modular erstellte Bauten der Nachkriegsmoderne, die ihre wahren Werte oft erst bei genauerem Hinsehen preisgeben.

SZ_Variel02_KüssnachtAmRigi_1166x777
SZ_MFH-Variel_Stucky-Meuli_1166x777

Mehrfamilienhäuser in Meuli und Küsnacht am Rigi, System Variel

1958_1_1166x1305

Die Fabrikationsschritte des Variel Systems.

Bildnachweis: Sebastian Heeb, Schweizer Heimatschutz

Weitere Informationen

Zur Autorin

Lucia Gratz ist selbständige Architektin und freie Autorin. Sie forscht seit 2015 im Rahmen der ICOMOS Arbeitsgruppe System und Serie zu Bausystemen der Nachkriegsmoderne.

Literatur

Jürg Graser, Gefüllte Leere. Das Bauen der Schule von Solothurn: Barth, Zaugg, Schlup, Füeg, Haller. gta Verlag, Zürich 2014
Gian-Marco Jenatsch, Bruno Krucker (Hg.): Fritz Stucky. Werk – Serie. gta Verlag Zürich 2006.