Auf einem künstlichen Archipelago im Westen von Amsterdam entsteht ein neues Stadtquartier, das punkto Ökologie und Nachhaltigkeit einen neuen Standard setzt. Auf der Centrumeiland ist diesen Herbst eine Wohnüberbauung fertig geworden, die mit Holzmodulen erbaut wurde. 

Das neue Archipelago im IJsselmeer entsteht mittels der sogenannten Pancake-Methode: Poröse Schablonen, die ins Wasser gelegt werden, definieren die Form.

Fotos: Stijn Poelstra

Mit dem traditionellen Holzmodulbau hätten wir das Geforderte nicht erbringen können.

Thomas Rau, Architekt und Inhaber von Rau

Visualisierung, Grundriss 1. OG, 5. OG, Schnitt Garten, Nutzungen

Visualisierung und Pläne: SeARCH, Amsterdam ; RAU, Amsterdam

Frau Nienke steht am Eingangstor der Centrumeiland in Amsterdam. Mit ihren schwarzen Gittern entlang der neuen Muiderlaan-Strasse ist sie ziemlich beeindruckend. Frau Nienke – Sie haben es sicher schon erraten – ist kein Mensch, sondern ein Haus. Ein Haus namens Juf Nienke. «Juf» heisst auf Holländisch Lehrer oder Lehrerin. So weist die Bezeichnung darauf hin, dass hier vor allem Wohnraum für Menschen entsteht, die im Bildungswesen tätig sind. Denn der Lehrermangel in Amsterdam ist offenbar auch darauf zurückzuführen, dass es zu wenig bezahlbaren Wohnraum gibt. 30 der 61 Wohnungen sollen deshalb an Lehrpersonen, aber auch an Angestellte im Gesundheits- oder Sicherheitssektor vermietet werden; die andere Hälfte an Familien mit mittlerem Einkommen. Im Herbst 2022 haben die ersten Bewohnerinnen und Bewohner ihre Wohnung bezogen.

Dem Meer Land abringen

Die Geschichte, an deren vorläufigem Ende der Einzug ins Juf-Nienke-Haus steht, beginnt vor mehr als zwanzig Jahren. In der Hauptstadt der Niederlande ist kein Platz mehr für neue Wohnbauten, Schulen, Büros, Läden und Naherholungsräume. Wovon hat es in Amsterdam aber genug? Wasserflächen! Deshalb beginnt die Stadt 1997, im IJsselmeer ein Archipelago von zehn Inseln zu planen. Künstliche Inseln haben im Venedig des Nordens Tradition: Schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts schuf die Stadt auf aufgeschütteten Sandbänken die drei «Westlichen Inseln», um mehr Platz für Handwerksbetriebe, Schiffswerften und Warenhäuser bereitzustellen.

Das neue Archipelago im IJsselmeer entsteht mittels der sogenannten Pancake-Methode: Poröse Schablonen, die ins Wasser gelegt werden, definieren die Form. In diese wird Sand gesprayt, sodass ein teigartiger Schlamm entsteht. Die Sandschicht setzt sich und sickert durch die Siebfläche. Sobald sie getrocknet ist, wird die nächste Teigschicht gegossen. Der Vorgang wird wiederholt, bis die Insel zwei Meter aus dem Wasser ragt. 

Sechs der zehn geplanten Inseln sind inzwischen fertig. Die Centrumeiland im IJsselmeer, die insgesamt siebte Insel von Amsterdam, beginnt sich ab 2015 über die Wasserlinie zu erheben. In den ersten Jahren bespielt die Stiftung UrbanCampsite Amsterdam die Insel mit öffentlichen Open-Air-Kunstwerken, die auch als einfache Unterkünfte dienen. UrbanCampsite will damit Bewohnerinnen und Touristen neue Perspektiven auf bisher wenig beachtete Orte eröffnen und das Quartierleben entfachen, bevor das erste Haus steht. Ein Konzept, wie es andernorts erfolgreich auf ehemaligen Industriebrachen zur Anwendung kommt.

Vorbildlich ökologisch

2018 hat die Insel ihre endgültige Form und Höhe erreicht. Nun es mit bauen losgehen. Auf dem neuen Stück Land soll ein punkto Ökologie und Nachhaltigkeit beispielhaftes Quartier mit bis zu 1500 Neubauten und Wohnraum für 45 000 Menschen entstehen.

«Rainproof» lautet eines der Schlüsselwörter des Städtebaus. Plätze, Strassen und Grünflächen werden nicht an eine reguläre Kanalisation angeschlossen. Stattdessen sollen künftige Hausbesitzer möglichst viel Regenwasser zurückhalten, auf dem eigenen Grundstück versickern lassen und wiederverwenden. Regenwasser im öffentlichen Raum wird durch offen liegende Entwässerungskanäle abgeführt und versickert durch Wadis im Boden. Unter den Strassen wird mit einer Sickerwasserkanalisation eine umgekehrte Entwässerung errichtet: Der perforierte Kanal gibt Wasser in den Untergrund ab, um einer Austrocknung entgegenzuwirken. Wasser aus den Wadis kann ebenfalls in die Kanalisation unter den Asphalt fliessen und von dort in den Boden eindringen. Überschüssiges Wasser, das nicht gespeichert werden kann, wird ins IJsselmeer abgeleitet.

Auch in der Überbauung Juf Nienke ermöglichen durchlässige Flächen wie das grüne Dach und die Vegetation im Hof eine höchstmögliche Wasserretention. Ein weiteres Ziel der Metropolregion Amsterdam ist es, ab 2025 ein Fünftel der Neubauten in Holz zu realisieren. Deshalb gibt es auch für das Bauen auf der Centrumeiland strenge Vorgaben.

Selbstverständlich ist auch Juf Nienke ein Holzbau. Er speichert mehr als 580 000 Kilogramm CO2, und dank seiner Vorfertigung reduzieren sich Abfallmenge und Bauzeit. Zudem kann das Gebäude dank des modularen Aufbaus bei Bedarf problemlos erweitert werden und ist insofern kreislauffähig, als sämtliche Materialien so beschaffen sind, dass sie wieder auseinandergenommen und weiterverwendet werden können. Die Heizwärme stammt aus dem Fernwärmesystem des Quartiers und der Strom aus der Photovoltaik-Anlage auf dem Dach.

Traditionellen Modulbau neu denken

Auf einen Sockel aus Beton, der mit Recyclinggranulat gefertigt wurde, stapeln die Architekten Holzmodule zu drei Bauten, die letztlich das hufeisenförmige Volumen bilden. Auf beiden Seiten schaffen kleinere vor- und zurückspringende Bauteile ein skulpturales Volumen, das sich mit angrenzenden kleinteiligeren Nachbarsbauten verbindet. Die vorgefertigten Module aus Brettsperrholz und Brettschichtholz mit einer Standardbreite von vier Metern haben unterschiedliche Tiefen. Damit und mit einer paarweise horizontalen oder vertikalen Anordnung entsteht eine Vielzahl von Wohntypologien.

Im mit drei Geschossen niedrigsten Bau im Norden des Areals sind Split-Level-Einfamilienhäuser untergebracht. In den sechs Geschossen des höchsten und längsten Volumens befinden sich über Gewerberäumen eingeschossige Wohnungen mit 2 bis 5 Zimmern. Daran schliesst im Südosten der dritte, fünfgeschossige Körper an mit Gewerberäumen, Maisonettes und Familienwohnungen.

Die mit Juf Nienke beauftragten Architektbüros haben viel Erfahrung im Holzmodulbau. Dennoch mussten sie für diesen Auftrag vieles von Grund auf neu denken und entwickeln. Mit den traditionellen Methoden hätten sie das Geforderte nicht erbringen können, sagt Architekt Thomas Rau. Module über fünf Geschosse aufeinanderzustapeln, war eine statische Knacknuss. Und auch dreigeschossige Split-Level-Einfamilienhäuser sieht man im Modulbau bisher selten. Hier galt es, die übereinandergestapelten Module vertikal zu erschliessen.

Nicht nur der nötige Wohnraum oder ein neues Wahrzeichen für die Insel stand für die Architekten im Vordergrund. Viel wichtiger war es ihnen, für die neuen Bewohnerinnen und Nutzer einen Ort zu gestalten, an dem sie sich willkommen und wohlfühlen. Deshalb führen einladende, flache Holztreppen in den Innenhof auf ein hölzernes Begegnungsdeck, das den tieferliegenden, zentralen Garten entlang den drei Gebäuden umrundet. Auf der biodivers bepflanzten Grünfläche finden die Bewohnerinnen und Nutzerinnen Raum für ruhige Momente, fürs gemeinsame Gärtnern und für Kinderspiele. Sogar Fledermäuse und Vögel haben hier ihren Platz: Am Rand des Holzdecks, an den Fassaden und auf der Dachkante des Parkhauses, das im Innenhof sichtbar ist, stehen Nischen und Kästen für sie bereit. Apropos Parkieren: Im Parkgeschoss, das leicht abgesenkt und unter das Hauptgebäude geschoben wurde, stehen – wir hätten es in Amsterdam nicht anders erwartet – 25 Parkplätze und 246 Veloabstellplätze zur Verfügung.

Video: Stijn Poelstra

Wir wollen die gebaute Umwelt mit Holzkonstruktionen revolutionieren. Wir brauchen keine Betonblöcke mit komplexen Systemen mehr, die uns vorschreiben, wie wir leben sollen. Wir brauchen leichte, hochleistungsfähige, nachhaltige Holzkonstruktionen, die für die Umwelt und die Bewohner gesund sind.

Bjarne Mastenbroek, Gründer und Geschäftsleiter von SeARCH

Gewerbe- und Wohnhaus, Centrumeiland IJburg, Amsterdam, 2022

Bauherrschaft: Dokvast, Oisterwijk NL
Architektur: RAU, Amsterdam; SeARCH, Amsterdam
Modulbau: Barli, Uden NL
Landschaftsarchitektur: DS Landscape Architects, Amsterdam
Gesamtfläche: Gewerbe 850 m2, Wohnen 5300 m2

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