In der neuen Genossenschaftssiedlung Zollhaus in Zürich gibt es neben klassischen Wohnungen auch vier Hallen. Deren Innenausbau wurde von den Bewohnenden selbst realisiert. Am weitesten geht dabei das Konzept des Vereins «zurwollke». Seine Mitglieder wohnen in modular kombinierbaren, mobilen Türmen.

Das „Hallenwohnen“, eine radikale Form des Zusammenlebens, die ohne gängige Raumaufteilung auskommt.

Neben den vier Wohnhallen umfasst das Zollhaus 56 Wohnungen sowie Räume für Gewerbe, Gastronomie und Kultur.

Fotos: Annett Landsmann © zurwolke e.V.

Grundriss (3.OG) und Schnitt Haus A.

Foto: Annett Landsmann

Das Hallenwohnen ist für Mätti und seine Partnerin die ideale Wohnform: «Es braucht pro Person wenig Fläche und schafft Raum für Kreativität, da es kaum fixe Vorgaben gibt. Zudem werden der soziale Austausch und das Zusammenleben gefördert», sagt Mätti.

Aktuell blicken Eva Maria Küpfer und Mätti Wüthrich mit ihren beiden Kindern vom Schlafbereich aus auf die Langstrassenunterführung, das Vorfeld des Zürcher Hauptbahnhofs und den Prime Tower. In ein paar Monaten könnte der Blick ihres Schlafbereichs vielleicht neu auf die benachbarte Zollstrasse oder auf den Innenhof der Siedlung fallen. Möglich macht es das spezielle Konzept der Grosswohngemeinschaft in der neuen Wohnsiedlung Zollhaus der Baugenossenschaft Kalkbreite in Zürich, zu der die Familie gehört. Eva Maria, Mätti und die Kinder sind nicht Teil einer gängigen Wohngemeinschaft, sondern praktizieren das sogenannte Hallenwohnen. Eine radikale Form des Zusammenlebens, die ohne gängige Raumaufteilung auskommt. Ihr Zuhause ist ein hallenartiger Raum im dritten Obergeschoss mit 275 Quadratmetern Wohnfläche und einer Höhe von 4,15 Metern. Die Wohngemeinschaft ist unter dem Namen «zurwollke»* als Verein organisiert. Er hat die Halle gemietet, und nur wer Mitglied ist, darf den Raum nutzen. Aktuell sind dies zwölf Bewohnerinnen und Bewohner, davon vier Kinder, die fest in der Halle wohnen, und zehn Nutzerinnen und Nutzer einer Atelier- oder Freefloating/Co-Workingfläche – diese arbeiten unregelmässig in der Halle. Die zusätzliche Vermietung von Arbeitsplätzen hat mehrere Gründe: «Einerseits möchten wir, dass die Fläche im Sinne der Nachhaltigkeit möglichst rund um die Uhr gut genutzt wird, andererseits gibt uns das künstlerische Schaffen in der Halle zusätzliche Inspiration und natürlich auch einen Zustupf an die Mietkosten», sagt Mätti Wüthrich. So arbeiten etwa die Ateliermieter tagsüber in der Halle, wenn ein Teil der Bewohnerschaft in der Schule oder an der Arbeit ist.

Fixe Sanitärzellen, mobile Wohntürme

Mätti und seine Partnerin haben zwanzig Jahre Erfahrung im Hallenwohnen. So lebten sie beispielsweise schon im Labitzke-Areal in Zürich und zuletzt im hohlzke, einem ehemaligen Hallenwohnprojekt an der Hohlstrasse beim Bahnhof Zürich-Altstetten. Das Hallenwohnen ist für die beiden die ideale Wohnform: «Es braucht pro Person wenig Fläche und schafft Raum für Kreativität, da es kaum fixe Vorgaben gibt. Zudem werden der soziale Austausch und das Zusammenleben gefördert», sagt Mätti. Die Hallenwohnprojekte, in denen sie sich bisher engagiert hatten, entstanden einst aus der Hausbesetzerbewegung heraus und bewegten sich juristisch zum Teil in Grauzonen. Denn die angemieteten Hallen waren rechtlich als Gewerbe- oder Atelierflächen gedacht und nicht als Wohnraum. Anders im Zollhaus: Hier ist das Projekt baurechtlich bewilligt, und in den Hallen darf gewohnt werden. Die Genossenschaft Kalkbreite sah Flächen für diese Wohnform bereits im Raumprogramm für den Architekturwettbewerb vor, den das Büro Enzmann Fischer Partner aus Zürich gewann.

Neben den vier Wohnhallen umfasst das Zollhaus 56 Wohnungen sowie Räume für Gewerbe, Gastronomie und Kultur. Mit ihrem Engagement schuf die Baugenossenschaft wohl schweizweit erstmals eine legale Möglichkeit zur Umsetzung des Hallenwohnens. Entstanden sind in der Siedlung schliesslich vier Wohnhallen, die von vier Interessengruppen ganz unterschiedlich gestaltet wurden. Die legale Form des Hallenwohnens bringt für Eva Maria, Mätti und die anderen Bewohnenden aber auch neue Randbedingungen mit sich: So ist die Fläche im Vergleich mit den früheren Projekten einiges kleiner. Zudem wurden eine Küchenzeile und vier Sanitärzellen bereits fix eingebaut und schränken die Nutzungsmöglichkeiten ein Stück weit ein. Damit will sich die Genossenschaft Kalkbreite die Möglichkeit offen lassen die Flächen später, falls das Hallenwohnen aufgegeben würde, zu unterteilen und als Lofts zu vermieten.

Die Anforderungen an die Module sind einfach: So müssen sie mobil und sicher sein (Statik, Kinder), sollen sich an den Hindernissen in der Halle vorbeimanövrieren lassen, eine standardisierte Andockstelle an benachbarte Module haben, und das Gewicht darf die statischen Vorgaben des Hallenbodens mit Punktlasten von maximal 200 Kilogramm nicht überschreiten.


Auch wenn die Fläche kleiner ist, haben die Bewohnenden die Idee des Hallenwohnens, wie sie sie schon zuvor praktiziert hatten, übernommen und adaptiert. Die private Fläche ist minimal gehalten, dafür profitieren alle von grossen gemeinschaftlichen Bereichen mit Küche, Esstisch, Sofaecke oder einem Rückzugsraum. Klassische Zimmer gibt es keine, dafür eine Art Wohnmöbel. Wohntürme nennen sie die Bewohner. Dabei handelt es sich um Module, die bis knapp unter die Decke reichen und meist zwei Nutzungsebenen umfassen, die als private Fläche genutzt werden. Die Anforderungen an die Module sind einfach: So müssen sie mobil und sicher sein (Statik, Kinder), sollen sich an den Hindernissen in der Halle vorbeimanövrieren lassen, eine standardisierte Andockstelle an benachbarte Module haben, und das Gewicht darf die statischen Vorgaben des Hallenbodens mit Punktlasten von maximal 200 Kg nicht überschreiten. Zudem muss es möglich sein, die Seitenwände der Module mit einfachen Mitteln lichtdurchlässig zu machen – beispielweise mit Vorhängen, die tagsüber zur Seite geschoben werden. Die Besitzer der Module mieten eine Grundfläche von neun Quadratmetern oder ein Mehrfaches davon. Gewünscht ist aber, dass das Basismass von neun Quadratmetern möglichst auf zwei oder mehr Module aufgeteilt wird – das schafft mehr Flexibilität. Mobil müssen die Türme sein, damit sie jederzeit an einen anderen Platz in der Halle gerollt werden können. «Unser Ziel ist es, alle drei bis sechs Monate innerhalb der Halle einen Umzug durchzuführen», sagt Mätti Wüthrich. Wer dann sein Modul wo parkiert, wird an einer monatlichen Sitzung gemeinsam im Konsentverfahren festgelegt. Die Wohntürme sind auch das Mass für die Bemessung der Miete. Die Nutzer eines Turms mit neun Quadratmetern Grundfläche bezahlen aktuell tausend Franken pro Monat, Ateliernutzer einen Viertel davon und die Freefloater einen Sechstel.

Der erste interne Umzug ist noch ausstehend

Aufgrund der relativ knappen Grösse der Halle ist die Mobilität der Wohntürme begrenzt. Im Labitzke-Areal oder im hohlzke etwa konnten sie rasch verschoben werden, um Platz für ein Konzert oder eine Theateraufführung zu schaffen. Im Zollhaus hingegen braucht der Umzug wegen der engen Verhältnisse in der Halle eine gewisse Vorausplanung. Schon vor dem Bezug haben Mätti und andere Mitstreiter in Workshops unterschiedliche Konfigurationen für mögliche Positionen der Wohntürme erarbeitet, an einem Modell getestet und die Maximalmasse der Module festgelegt, damit diese beim Rangieren aneinander vorbei passen. Trotz den Vorgaben ist die Gestaltung der Türme höchst unterschiedlich. So kommen etwa Bambus, Stahl, Lehm und Stroh oder gebrauchte Bauteile zur Anwendung, aber auch detailliert ausgefeilte Lösungen. Zu Letzteren zählen die fünf Module von Eva Maria und Mätti, die zusammen auf 18 Quadratmetern Fläche stehen – das entspricht von der Miete her dem Äquivalent von zwei Wohntürmen. «Da wir beide arbeiten und auch Zeit für die Kinder brauchen, haben wir unsere Module zwar komplett selbst entworfen, aber von Bauprofis prüfen und weitgehend bauen lassen», sagt Mätti.

Die Einheiten bestehen aus Stahlrahmen sowie horizontalen Ausfachungen mit Holzplatten. Die vertikalen Flächen bestehen grösstenteils aus Schiebefenstern. Diese sorgen für Transparenz und ermöglichen es, die einzelnen Module der Familie ganz unterschiedlich aneinander zu docken sowie gegeneinander zu öffnen. Für Privatsphäre sorgen nachts rundum laufende Vorhänge. Neben zwei Schlafmodulen mit Bettflächen verfügt die Familie über ein kleines und ein grosses Treppenmodul zur Erschliessung der oberen Ebenen sowie ein Büromodul fürs Homeoffice. Mit einer ausgeklügelten Mechanik können die Rollen für das Verschieben abgesenkt werden, sonst stehen die Module, die bis zu 1,5 Tonnen wiegen, flächig auf dem Boden um die Last gut zu verteilen. Da noch nicht alle Bewohner den Ausbau ihrer Wohnmodule abgeschlossen haben, fand seit dem Bezug der Halle im Februar 2021 noch kein interner Umzug statt. Doch sobald alle fertig sind, wird die Monatsversammlung wohl über die erste Rochade abstimmen. Danach könnte die Familie von Eva Maria und Mätti aus dem Bett heraus für die nächsten drei bis sechs Monate einen neuen Ausblick geniessen und ihre privaten Bereiche gleich auch neu konfigurieren – die Modularität der Elemente macht es problemlos möglich.

*Die spezielle Schreibweise spielt einerseits auf frühere Hallenwohnprojekte an, die jeweils mit -zke endeten (Labitzke etc.), und nimmt mit dem doppelten L andererseits das Doppel-L im Zollhaus auf.

Hallenwohnen im Fernsehen
Während der Vergabe der Hallen durch die Genossenschaft Kalkbreite sowie in der Phase des Bezugs wurden verschiedene Fernsehberichte und -dokumentationen über die spezielle Wohnform sowie ihre Protagonisten erstellt.

SRF – DOK, 30. Juli 2020 «Anders wohnen – Eine Wohngemeinschaft in der Gewerbehalle»

SRF – Schweiz Aktuell, 4. März 2021 «Wohnen in der grossen Halle»

Keystone SDA, 11. Februar 2021 «Züricher Hallenwohnen: Privatsphäre aufs Minimum reduziert»

Wichtig zu wissen: Der im SRF DOK «Anders wohnen – Eine Wohngemeinschaft in der Gewerbehalle» gezeigte Vergabeprozess durch die Genossenschaft Kalkbreite wurde später nochmals neu aufgerollt. Grund dafür waren gemäss der Genossenschaft rechtliche und technische Probleme sowie Schwierigkeiten bei der Finanzierung des Ausbaus durch die ausgewählten Gruppierungen. Im Rahmen der zweiten Vergaberunde, die 2018 mit einem neuen Gremium durchgeführt wurde, kam die Gruppe um Mätti Wüthrich, die ursprünglich nicht ausgewählt worden war, mit einem angepassten Konzept für eine Grosshalle trotzdem noch zum Zug.

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